"Natur Natur sein lassen" ("Wildnisgebiete", Nutzungsverzicht, Flächenstilllegungen) auf möglichst großer Fläche gilt aktuell als die Standardlösung, um allgemein die Biodiversität im Wald zu erhöhen.
Auf den ersten Blick sind solche mit romantischen Vorstellungen behafteten "Wildnisgebiete" durchaus plausibel, denn im Wirtschaftswald gibt es nur wenige Waldbestände, die sich in der Reife- und Zerfallsphase befinden, also aus sehr alten Bäumen bestehen und viel Totholz aufweisen. Tier- und Pflanzenarten, die auf diese alten Waldstrukturen angewiesen sind, finden sich daher im Wirtschaftswald vergleichsweise selten. "Natur Natur sein lassen" schützt daher insbesondere die Arten dieser Waldentwicklungsphase.
Nimmt man großflächig Wälder aus der Bewirtschaftung, so muss man grundsätzlich bedenken, dass der Verzicht auf nachhaltige Holznutzungen in den heimischen Wäldern zugleich immer auch bedeutet, dass die fehlenden Mengen importiert werden müssen. Diese kommen dann vielfach aus Ländern, deren Waldbewirtschaftung nicht unseren ökologischen und sozialen Standards entsprechen. Eine Reduzierung von heimischem Wirtschaftswald verschlechtert somit häufig die Umweltsituation und auch die Zukunftsperspektive von Drittländern.
Die anhaltende globale Waldvernichtung in den Tropen, Subtropen und auch borrealen Wäldern beinhaltet für uns zugleich eine gewisse Verpflichtung zur nachhaltigen, naturverträglichen Waldbewirtschaftung, denn in Deutschland haben wir vergleichsweise optimale Wuchsbedingungen.
Hinsichtlich des Klimaschutzes gibt es grundlegende Unterschiede zwischen einem bewirtschafteten und einem sich selbst überlassen Wald. Die Klimaschutzwirkung des Waldes basiert zum einen auf der direkten Speicherung von CO2 im Waldbestand und im Waldboden. Im Urwald halten sich Auf- und Abbauprozesse die Waage, so dass sich ein heute ausgewiesener "Wildniswald" in ferner Zukunft CO2-neutral verhalten wird.
Für den Klimaschutz weitaus bedeutender sind jedoch die Speicherung von CO2 in langlebigen Holzprodukten sowie die Substitution von in der Herstellung energieintensiven Materialien (z.B. Beton, Aluminium) durch den nachwachsenden Rohstoff Holz.
Ein weiterer, wenn auch nicht so bedeutender Aspekt ist die energetische Nutzung von Holz, sei es direkt als Brennholz oder im Rahmen einer thermischen Endverwertung von nicht mehr verwendbaren Holzprodukten.
Ein bewirtschafteter Wald dient somit in dreifacher Weise dem Klimaschutz.
Wald hat gerade im dichtbesiedelten Deutschland eine Vielzahl von Funktionen zu erfüllen: er liefert den nachwachsenden, umweltfreundlichen Rohstoff Holz, er ist Arbeitsplatz und zugleich Lebens- und Rückzugsraum für viele Tiere und Pflanzen, er reinigt die Luft, reguliert den Wasserhaushalt, sichert unser Trinkwasser, wirkt ausgleichend auf unser Klima und schenkt den zivilisationskranken Menschen Erholung.
Im Rahmen der sogenannten "multifunktionalen Forstwirtschaft" versucht man – mit örtlich unterschiedlicher Gewichtung – diesen Funktionen auf ein und derselben Fläche gerecht zu werden.
Beim Nutzungsverzicht stehen v.a. (Rot-) Buchenwaldgesellschaften im Fokus, da diese nur in Europa vorkommen und Deutschland im Zentrum des natürlichen Verbreitungsgebietes liegt. Mit 14 Prozent ist die Buche nach wie vor unser häufigster Laubholzbaum, er besitzt eine hohe ökologische Amplitude und ist gegenüber anderen Baumarten besonders konkurrenzstark. Buchenwaldgesellschaften wären bei uns daher in der Regel das Endstadium (Klimax-Stadium) der natürlichen Waldentwicklung. Buchenwaldgesellschaften haben allerdings aufgrund der intensiven Beschattung meist eine spärliche ausgeprägte Bodenvegetation, wenig gegliederte Bestandesstrukturen und sind zudem arm an anderen Baumarten.
Der Wald ist bereits im Mittelalter von der Landwirtschaft i.d.R. auf die schlechten Standorte zurückgedrängt worden und von daher dominieren bei uns basenarme Waldböden. Als natürliche Waldgesellschaft würde hier – wie es der Botaniker treffend umschreibt – der "artenarme Hainsimsen-Buchenwald" vorherrschen.
Werden Wirtschaftswäldern nicht mehr genutzt, läuft eine – wie Beobachtungen in den Naturwaldreservaten belegen – vergleichbare Entwicklung ab: Die konkurrenzstarke Buche verdrängt v.a. lichtliebende Arten wie die Eiche und die Strukturvielfalt insgesamt geht Zusehens verloren.
Dieser ganzheitliche, integrative Ansatz war bisher gesellschaftlicher Konsens, wird aber durch einen großflächigen Nutzungsverzicht grundlegend in Frage gestellt. Auf den verbleibenden Waldflächen kommt es nämlich zwangsläufig zu einer Gewichtsverschiebung hin zu einer primär produktionsorientierten Bewirtschaftung. Es wäre ein weiterer maßgeblicher Schritt in Richtung Segregation, d.h. einer Aufspaltung in Schutzgebiete auf der einen und reinen Wirtschaftswäldern auf der anderen Seite. Für den Naturschutz im Wald eine fatale Entwicklung, denn statt einer naturnahen, multifunktionalen Waldwirtschaft in der Fläche, würde es eine ähnliche ökologische Verarmung wie im Offenland geben.
In der urban geprägten öffentlichen Wahrnehmung käme es außerdem zu einer Polarisierung - hier der gute, romantische, vermeintliche Urwald, da der böse, kapitalistische, reine Wirtschaftswald.
Wie anfangs festgestellt, sind Reife- und Zerfallsphasen und die darauf angewiesenen Lebensgemeinschaften im Wirtschaftswald deutlich unterrepräsentiert und es besteht diesbezüglich Handlungsbedarf. Im Jahr 2007 hat die Bundesregierung im Rahmen der "Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt" das Ziel formuliert, dass es bis 2020 eine natürliche Waldentwicklung auf fünf Prozent der Waldfläche Deutschlands geben soll.
Bei einer Gesamtwaldfläche von etwas mehr als elf Millionen Hektar entfallen 47 Prozent auf Privatwald und 53 Prozent auf öffentlichen Wald (4 Prozent Bundes-, 30 Prozent Landes- und 19 Prozent Körperschaftswald). Fünf Prozent natürliche Waldentwicklung im Gesamtwald bedeuten, dass rund 554.000 Hektar Wald aus der Nutzung genommen werden müssen, was wiederum in etwa einem Verzicht auf 4,5 Millionen Kubikmeter Holz pro Jahr entspricht.
Im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz wurde zum Stichjahr 2013 eine Flächenbilanzierung durchgeführt mit dem Ergebnis, dass lediglich auf 1,9 Prozent der Waldfläche eine solche natürliche Entwicklung gegeben sei. Allerdings wurden lediglich Flächen erfasst, die größer 0,3 Hektar sind sowie Flächen, auf denen der Nutzungsverzicht dauerhaft rechtlich gesichert ist. Damit finden beispielsweise Bewirtschaftungskonzepte vieler Staats- und Kommunalforstbetriebe, die sich verpflichten eine bestimmte Anzahl von Biotopbäumen je Hektar dauerhaft stehen zu lassen, keine Berücksichtigung.
Gerade diese kleinflächigen, integrativen Ansätze sind jedoch besonders flächenwirksam und ökologisch extrem effizient. Ebenfalls unberücksichtigt weil rechtlich nicht gesichert, bleiben Waldflächen, die aufgrund ihrer Rahmenbedingungen (Steillagen, Vernässung, Flachgründigkeit etc.) ohnehin für eine Bewirtschaftung nicht in Frage kommen; dies sind zudem meist Extremstandorte, die unter Naturschutzaspekten besonders wertvoll sind. Nicht erfasst sind darüber hinaus Flächen im Kleinstprivatwald, bei dem der Eigentümer keinerlei Interesse mehr an einer Bewirtschaftung seines Waldes hat, dieser real also ungenutzt bleibt.
Die SDW befürwortet vom Grundsatz her die Fünf-Prozent-Forderung der "Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt", allerdings vermittelt die vorliegende Flächenbilanzierung mit aktuell 1,9 Prozent natürlicher Waldentwicklung ein falsches Gesamtbild. Zur Abbildung der Realität müssen aus Sicht der SDW alle Flächen einbezogen werden, auf denen eine Nutzung faktisch nicht stattfindet. Grundsätzlich sollten zudem statt großflächigem Nutzungsverzicht und damit Forcierung der Segregation im Wald, besser kleinflächige, integrative Ansätze (Altholzinseln, Biotopbäume) umgesetzt und gezielt gefördert werden.
Mit dem vorhandenen Instrument des Vertragsnaturschutzes, allerdings mit entsprechenden Finanzmitteln ausgestattet, würde man bei allen Waldbesitzer:innen eine größere Akzeptanz erreichen, die Arten- und Strukturvielfalt effektiv erhöhen und auch die notwendigen Vernetzungsstrukturen schaffen.
Spätestens seit den 1990er Jahren werden im öffentlichen Wald und auch immer mehr im Privatwald die Grundsätze einer naturnahen und damit integrativen Waldwirtschaft angewandt. Die Auswirkungen dieses Handelns spiegeln u.a. die Ergebnisse der aktuellen Bundeswaldinventur aus dem Jahr 2014 wieder, wonach der Wald insgesamt älter, struktur- und totholzreicher geworden ist. So ist der Mischwaldanteil auf ¾ der Gesamtwaldfläche gestiegen, 68 Prozent der Wälder sind zwei- oder mehrschichtig aufgebaut (28 % mehr als 2002), der Anteil der über 120-jährigen Altbestände ist auf 14 Prozent angewachsen, die Totholzmenge beträgt durchschnittlich 20,6 m3 je Hektar (+ 18 Prozent) und auf fünf Prozent der Waldfläche befinden sich besonders geschützte Biotope (v.a. Feuchtbiotope wie Bruch- oder Auewälder).
Die Bundeswaldinventur hat zudem rund 22 Millionen Höhlenbäume, 741.000 Horstbäume und eine Millionen markierter Biotopbäume ermittelt. Leuchttürme dieser Entwicklung sind die Leitarten Wildkatze und Schwarzstorch, deren Situation sich insgesamt erheblich verbessert hat. Der anhaltend positive Trend im Wald steht im krassen Gegensatz zum Offenland, wo sich die Biodiversität infolge von Segregation und einhergehender Intensivierung der Landwirtschaft in einem alarmierenden Zustand befindet. Eine solch fatale Entwicklung gilt es im Wald zu verhindern.
Nach Verabschiedung des vorliegenden Positionspapieres veröffentlichte das Institut für Waldökosysteme des Johann Heinrich von Thünen-Instituts eine Gesamtbilanz aller Flächen, die dem Fünf-Prozent-Ziel zuzurechnen sind. Dabei wurden auch Flächen einberechnet bei denen der Nutzungsverzicht zwar nicht gesetzlich fixiert ist, die aufgrund der örtlichen Gegebenheiten (z. B. Steillagen) dennoch nicht bewirtschaftet werden. Dadurch ergibt sich ein Flächenanteil von 5,6 Prozent. Längerfristig nutzungsfreie Strukturelemente (z. b. Biotopbaumgruppen) sind dabei jedoch noch immer nicht berücksichtigt, da sie nur schwer erfassbar sind. Aus Sicht der SDW ist das Fünf-Prozent-Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt damit bereits heute erreicht.